Ein durchschnittlicher Leser liest etwa 150 bis 200 Wörter pro Minute. Dieser Text umfasst ungefähr 1.900 Wörter, es dauert also etwa 10 Minuten, um an das Ende zu gelangen. In derselben Zeit könnte man 50 Twitter-Nachrichten überfliegen, mit der S-Bahn vom Wöhrder See bis zum Plärrer fahren, einen Imbiss nehmen oder etwa ein Hundertstel der Strecke zwischen Berlin und New York im Flugzeug zurücklegen. Habt Ihr – meine lieben Brüder – dafür überhaupt Zeit? Drängt nichts Anderes? Zeit ist schließlich das, was uns unter all den Mangelerscheinungen, die wir diagnostizieren, am meisten fehlt.
Ein atemloses Jahr geht zu Ende. Beim Zuschauen fühlte man sich wie Sten Nadolnys John Franklin in „Die Entdeckung der Langsamkeit“, der als Zehnjähriger so langsam ist, dass er dem Ballspiel der anderen Kinder gedanklich nicht folgen, geschweige denn mitspielen kann: Zitat: „Alles war etwas zu schnell, das Spiel, das Sprechen der anderen, das Treiben auf der Straße vor dem Rathaus.“
Ereignisse scheinen in immer kürzeren Intervallen aufeinanderzufolgen, Pandemie, Politik und Gesellschaft immer schneller zu ticken. Die Diagnose, dass Gesellschaft und Politik an akuter Beschleunigung leiden, ist keine neue. Schon einmal, vor rund eineinhalb Jahrhunderten, wurde Europa von diesem Gefühl erfasst, mit der Revolution der Kommunikation durch den Telegraphen und die Erfindung der Eisenbahn.
Das Zeitraster, an dem sich der Mensch orientierte, wurde sprunghaft präziser und einheitlicher – schließlich wollte man den Zug nicht verpassen. Das Wechselspiel von technischer Innovation, Wandel der Kommunikation, Beschleunigung und politischer Veränderungen beschreibt der englische Mathematiker Whitrow in seiner Geschichte der Zeit. Besonders der Telegraph habe das politische und wirtschaftliche Handeln auf den Kopf gestellt. Zitat: „In der Hitze des Gefechts war schnell ein Ultimatum gestellt, das eine umgehende Antwort erforderte. Eine plötzliche Panik an der New Yorker Börse am Nachmittag konnte dazu führen, dass sich ein Geschäftsmann in London noch vor dem Frühstück am nächsten Morgen das Leben nahm.“
Unser Gefühl ist also nicht sehr originell, falsch ist es wohl dennoch nicht. Die Soziologie hat das Thema vor etwa 25 Jahren entdeckt und nimmt seitdem der Gesellschaft die Zeit. Die Geschwindigkeit der Kommunikationsübertragung, so schreibt der Soziologe Hartmut Rosa, hat seit Beginn der Industrialisierung um das 107-fache zugenommen, die Transportgeschwindigkeit um das 102-fache. Wir essen schneller, schlafen weniger, lernen im Eiltempo. Feste Beziehungen halten weniger lang, wir wechseln häufiger die Arbeitsstelle, den Wohnort und die Religionszugehörigkeit, wir haben unsere Produktion und unseren Konsum gesteigert, nicht einmal zum Ausschreiben von Wörtern haben wir mehr Zeit, M F G, GLG, (ganz liebe Grüße), asap (as soon as possible).
Die These, dass für diese erneute Beschleunigung die Digitalisierung verantwortlich ist, liegt auf der Hand. Computer, die an den Finanzmärkten Aktien im Hochfrequenzhandel hin und herschieben, zwingen uns zu schnellen Reaktionen. Maschinen feuern unerbittlich mit Nachrichten und Aufgaben, mit Mails, Tweets, TikToks, WhatsApps und SMS, die wir kaum mehr bewältigen können. Frank Schirrmacher hat das Phänomen in seinem Buch „Payback“ beschrieben. Es beginnt mit folgendem verzweifelten Bekenntnis: „Was mich angeht, so muss ich bekennen, dass ich den geistigen Anforderungen unserer Zeit nicht mehr gewachsen bin. Ich werde aufgefressen.“
Können uns ein paar Maschinen so aus dem Takt bringen? Ist Beschleunigung wirklich ein passiver Prozess, etwas, das uns widerfährt?
Intuitiv betrachten die meisten Menschen Zeit als etwas Absolutes, etwas, dem sie ausgesetzt sind, wie es auch in Shakespeares Beschreibung der Zeit als „blutige Tyrannin“ mitschwingt. Wir können sie messen, also glauben wir, eine Stunde sei eben eine Stunde. Diese Vorstellung der gleichmäßig wegtickenden Zeit hat bereits Augustinus von Hippo bezweifelt. Er beschreibt wahrnehmungspsychologisch, was später Albert Einstein für ganz andere Dimensionen von Geschwindigkeit physikalisch belegt. Zeit ist relativ, wie schnell sie vergeht, hängt vom Beobachter ab. Zeit könne man nur messen, schreibt Augustinus, weil der menschliche Geist den Eindruck, den Ereignisse hinterlassen, im Geist bewahrt. Diese Eindrücke dienen sozusagen als Meilensteine entlang einer Wegstrecke, die die Entfernung eines zeitlichen Ortes zum nächsten markieren. Demnach entsteht ein Gefühl von Beschleunigung, je mehr Ereignisse wir wahrnehmen, weil die Strecken zwischen den Meilensteinen kürzer werden.
Die Digitalisierung bewirkt ein solches Gefühl. Zum einen wird die Zahl der Ereignisse pro Zeitspanne größer, zumindest der medial vermittelten Ereignisse. Das Netz haben wir inzwischen immer dabei, die Distanz zwischen dem Betrachter und einem Ereignis wird immer unwichtiger. Zudem erreichen uns die Eindrücke in „Echtzeit“, ohne Verzögerung, und häufig gleichzeitig mit anderen Eindrücken. Zeit wird nicht nur komprimiert, der Augenblick wird gewissermaßen gespalten. Folgen hat dieses Zersplittern der Gegenwart sowohl für die Politik als auch für den Einzelnen. Der Soziologe Hartmut Rosa fürchtet, dass die Beschleunigung des Wandels im Leben des Einzelnen das Gefühl von Kohärenz und Geschichtlichkeit gefährdet, dass jemand, der seine Aufmerksamkeit in der Gegenwart zerstreut, seine Identität verliert, das Gefühl, eine individuelle, ganze Person zu sein, die den Augenblick überdauert.
Konkret zu beobachten waren in diesem Wahl-Jahr die Folgen für das politische System. Von der Fülle der Ereignisse und der Gleichzeitigkeit von Entscheidung und Konsequenz waren Regierung und Parlament überfordert – besonders was die Pandemie betrifft. Sie haben begonnen, ihre Autonomie zu verlieren. Werden die Folgen einer Absichtserklärung oder Entscheidung sofort sichtbar, ist längerfristiges Handeln kaum mehr planbar. Die Reaktion der Welt erfordert sofort die nächste Entscheidung. Statt lange in die Zukunft zu planen, müsse sich die Politik gezwungenermaßen „durchmogeln“, schreibt Hartmut Rosa, kurzfristige Ziele gewinnen gegenüber langfristigen Zielen an Priorität. Oder die Politik delegiert Entscheidungen an „schnellere“ Gremien: etwa an einen Expertenrat, einen Ausschuss, einen RKI-Vorsitzenden oder gleich an „die Märkte“.
Die gute Nachricht ist: Gerade weil Zeit vom Beobachter abhängt, haben wir es selbst in der Hand, sie wieder langsamer vergehen zu lassen. Die Gegenbewegung, die „Entschleunigung“ ist bereits in vollem Gange. Die Menschen verordnen sich selbst Bremsen, Yoga, Slow- Food, Sabbaticals, Landflucht. Das lässt sich auch politisch umsetzen. Ein kollektiver morgendlicher Sonnengruß oder ein Bürohund wären vermutlich nicht durchsetzbar. Doch nur, weil Computer Aktien handeln können, heißt es nicht, dass wir es ihnen erlauben müssen. Nur, weil es das Smartphone gibt, heißt es nicht, dass wir es nicht auch einmal beiseitelegen können. Beschleunigung widerfährt uns nicht. Wir betreiben sie selbst. Diese optimistische Erkenntnis bringt mich zum Teil 2 meines Vortrages, denn
Zuversicht ist aufmüpfig
In einer Gesellschaft, in der jede Woche ein neuer Weltuntergang heraufbeschworen wird, um die Erwartungshaltung der Menschen in Bodennähe zu halten, ist Zuversicht nicht nur eine Rarität, sondern gefährlich für das stagnierende Gleichgewicht. Daher ist der Optimist ein Feind des Zeitgeistes. Ich bin ein grundsätzlich optimistischer Mensch. In den Augen mancher Zeitgenossen macht mich das verdächtig. Optimistische Grundhaltungen sind nicht nur selten geworden, im Gegensatz zu anderen vom Aussterben bedrohten Lebensarten scheinen sie gesellschaftlich auch gar nicht mehr wirklich erwünscht zu sein. Optimisten gelten als blauäugige Realitätsverdreher und als Weltmeister im Wegschauen und Verdrängen. „Wie kann angesichts der Zustände in der Welt jemand mit klarem Verstand auch nur in Ansätzen zuversichtlich sein?“ So in etwa klingt der als Frage gefasste, aber oft unausgesprochen bleibende Vorwurf an denjenigen, der nicht im Jammertal der Wirklichkeit versinken will.
In vielen Bereichen des Lebens sollen Vielfalt und Buntheit das neue Stereotyp bilden. Nicht so bei der Laune. Wer nicht ängstlich um sich blickt, wer nicht grundsätzlich vorsichtig ist und nicht möglichst wenig von sich und seinen Mitmenschen erwartet, den treffen die leicht verstörten Blicke eben dieser Verstörten, Vorsichtigen und Ängstlichen. Fast erscheinen Missmut und niedrige Erwartungen als die Gebote elf und zwölf des bewusst lebenden Menschen. Warum ist das so?
Um den Optimismus ranken sich viele Missverständnisse. Ein zentrales basiert auf der Annahme, es müsse alles gut sein, damit auch künftig alles gut sein könne. Doch dies ist ein Irrtum: Wo steht geschrieben, dass wir nur dann eine positive Zukunft erhoffen dürfen, wenn schon die Gegenwart gut ist? Wäre dem so, würde in der Krise die Hoffnung auf Besserung aussterben. Dabei sind es gerade die guten Zeiten, in denen nicht selten die Angst vor Verschlechterung überhandnimmt.
Ob jemand eher ein Optimist oder ein Pessimist ist, hat wenig mit den Umständen zu tun, in denen er lebt. Reiche Menschen sind weder grundsätzlich optimistischer noch pessimistischer als arme Menschen. Der zentrale Unterschied zwischen optimistischen und pessimistischen Menschen liegt nicht so sehr in ihrer Wahrnehmung der Gegenwart, sondern in ihrer Bewertung der Zukunftsaussichten.
Als soziale Wesen sind wir allesamt den Einflüssen des Zeitgeists ausgesetzt. Jeder nimmt diese Einflüsse zwar anders wahr und geht anders mit ihnen um. Häufig sind persönliche Haltungen zu bestimmten Themen aus anderen Ansichten ableitbar, sie ergeben manchmal eine kohärente Ideenlandschaft: Ich versichere Euch, dass Ihr nur wenige Veganer finden werdet, die sich aktiv für Atomkraft einsetzen. Obwohl beide Themen nichts direkt miteinander zu tun haben, so sind sie doch eingebettet in Grundüberzeugungen, die wiederum bestimmte Haltungen zu anderen Fragen wahrscheinlich machen.
Wenn aber tatsächlich jeder Mensch selbst darüber entscheidet, welche Standpunkte er einnimmt, warum halten sich dann Optimisten und Pessimisten nicht die Waage? Für mich liegt die Antwort auf der Hand: Der moderne Zeitgeist bevorzugt Pessimisten. Er betont düstere Zukunftsaussichten und schürt Misstrauen gegenüber guten Nachrichten. Dies ist nicht nur der medialen Suche nach Sensationen und Skandalen geschuldet – denn selbst diese könnten ja auch zu optimistischen Interpretationen führen. Es kommt ein anderer wichtiger Faktor hinzu: Pessimismus lädt häufig zu Passivität ein.
Wer trotz des Zeitgeists optimistisch sein will, stößt unweigerlich auf Widerstände. Denn Zuversicht ist nur möglich, wenn man hohe Erwartungen an Mensch und Zukunft hat. Dazu braucht es aber Vertrauen in die menschliche Entwicklungsfähigkeit und in die Menschheit insgesamt – und das Fehlen genau dieses Vertrauens macht den modernen Zeitgeist aus. Optimismus ist aber ohne den Glauben an die Menschen kaum vorstellbar.
Der Pessimist braucht darüber so gar nicht nachzudenken: Da seiner Ansicht nach die Dinge ohnehin eher schlechter als besser werden, muss er auch nicht für Freiheit eintreten. Nicht selten interpretiert er Freiheit sogar als zusätzliche Bedrohung und deren Beschneidung als eine sinnvolle Zukunftsstrategie, um das Schlimmste eventuell doch noch zu vermeiden. Optimistisches Denken kann sich immer dann entwickeln, wenn die Entwicklungsfähigkeit der Menschen vorausgesetzt wird. Es ist die persönliche Nähe oder Distanz zu dieser humanistischen Grundüberzeugung, die letztlich darüber entscheidet, ob jemand tendenziell optimistisch oder pessimistisch eingestellt ist. Diese Einstellung ist für mich persönlich wichtiger als die, ob sich ein Mensch als eher „links“ oder „rechts“ oder „religiös“ oder als was auch immer versteht.
Wir alle verändern die Welt durch unser Denken und Handeln – ganz gleich, ob nun als Optimist oder als Pessimist. Ich habe beide Seiten selbst ausprobiert und für mich die Erfahrung gemacht, dass es spannender und erfüllender ist, sich selbst und anderen mehr zuzutrauen, anstatt in Angst und Selbstmitleid zu ertrinken. Das Schöne ist: Es ist unsere völlig freie Entscheidung, ob wir Optimisten sein wollen. Der Pessimist hält nicht einmal diese Entscheidung für frei, sondern für zwingend und alternativlos. Deswegen sind ihm die Zuversichtlichen instinktiv ein Dorn im Auge.
Der Optimist hingegen weiß, dass er gegen den Strom schwimmt. Er benötigt gute Gründe für Optimismus und eine innere Robustheit, um im Ringen mit dem Zeitgeist nicht weggerissen zu werden. Das ist nicht immer leicht. Aber zugleich macht es glücklicher und zufriedener. Wahrscheinlich gibt es in unseren Zeiten kaum etwas Aufmüpfigeres, als optimistisch zu sein. Optimisten leben in einer schöneren Welt – nicht, weil sie Hässlichkeit ausblenden, sondern weil sie im Jetzt den Beginn einer womöglich besseren Zukunft sehen und sich dafür einsetzen und darauf freuen können. Genießt diese Freude und entdeckt, wie schön es ist, im Gegenwind nach oben zu steigen.