Schlägt man in einem normalen Wörterbuch nach, dann findet man unter „Angst“ Synonyme wie Furcht, Bangigkeit, Ängstlichkeit, Panik, Besorgnis, Unlust. In Alltag und Wissenschaft werden viele Arten der Angst unterschieden: Prüfungsangst, Flugangst, Platzangst, Realangst, Neurotische Angst, Moralische Angst, Urangst, Existenzangst und so weiter. Der ängstliche Mensch wird als Angsthase, Feigling, Memme, Duckmäuser, Waschlappen oder Schlappschwanz bezeichnet. Im Wörterbuch der lateinischen Sprache wird zwischen „angor“ und „timor“ unterschieden. Dabei steht „angor“ einerseits für Atemnot und Beklemmung, andererseits für Bangigkeit und Melancholie. Das Wort „timor“ übersetzt man am besten mit Furcht, Befürchtung und Besorgnis.
Eine kuriose Wortschöpfung ist die berühmte „German Angst“, womit die angebliche Existenzangst der Deutschen bezeichnet wird, wie sie zum Beispiel in der Zurückhaltung beim Golfkrieg, aber auch in Panikreaktionen bei Epidemien oder Umweltgefahren zum Ausdruck kommt. Die weite Verbreitung und die Vielfalt der Bedeutungen lassen vermuten, dass dieses Wort ein Sammelbegriff ist für eine umfangreiche und sehr komplexe Gruppe von Phänomenen. Um so wichtiger ist eine genaue kontextabhängige Definition.
In der Existenzphilosophie, die mit den Namen Kierkegaard, Heidegger, Jaspers und Sartre verbunden ist, hat sich eine bestimmte Bedeutungsvariante durchgesetzt. Sie stammt von dem dänischen Philosophen Kierkegaard, der den Begriff der Angst folgendermaßen erläuterte:
„Angst kann man vergleichen mit Schwindel. Der, dessen Auge es widerfährt in eine gähnende Tiefe niederzuschauen, er wird schwindlig. Aber was ist der Grund? Es ist ebenso sehr sein Auge wie der Abgrund; denn falls er nicht herniedergestarrt hätte, hätte er keine Angst. Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigene Möglichkeit…“
Man kann diesen Text Kierkegaards wörtlich und allegorisch interpretieren. Wörtlich bedeutet er: Ein Mensch steht am Rande eines Abgrundes. Sein Auge schaut in die Tiefe und während er sich vor dem drohenden Absturz fürchtet, spürt er den Schwindel der Freiheit in sich aufsteigen. Ihm wird bewusst, dass nichts ihn daran hindern kann, sich selbst hinabzustürzen. Die allegorische Deutung lautet: Wenn ein Mensch in den Abgrund seiner eigenen Möglichkeiten schaut, spürt er in sich den Schwindel der Freiheit. Er ängstigt sich vor sich selbst, vor dem, was er tun könnte. Er ängstigt sich vor seiner eigenen Freiheit. Insofern ist „Angst“ deutlich von „Furcht“ zu unterscheiden; denn man fürchtet sich vor den konkreten Gefahren der Welt, zum Beispiel vor einem bissigen Hund, der einem den Weg versperrt.
Fjodor Dostojewskij beschreibt eine solche existentielle Situation, in welcher bespielsweise der Zusammenhang von Angst und Freiheit sichtbar wird. Raskolnikow, der Protagonist in „Verbrechen und Strafe“, hat sich wegen Armut, Übermenschphantasien und Verachtung für den Normalmenschen dazu entschlossen, die alte Pfandleiherin zu ermorden, um sich deren Vermögen anzueignen. Vor der Tat träumt er einen schrecklichen Traum, den berühmten „Traum des Raskolnikow“.
Nach dem Erwachen ist Raskolnikow entsetzt über sich und den Blick in den Abgrund seiner Möglichkeiten: “ ‚Mein Gott!‘ rief er aus, ‚ist es denn möglich, ist es denn möglich, daß ich wirklich ein Beil nehmen, ihr den Schädel spalten werde? Daß ich im klebrigen, warmen Blut ausrutschen, das Schloß aufbrechen, stehlen und zittern werde? Daß ich mich verstecken werde, von oben bis unten mit Blut besudelt? Mit dem Beil, oh Herr, ist es denn möglich?
Dieses Angstkonzept ist häufig kritisiert worden. Man sagt, Kierkegaard übertreibe die Bedeutung dieses Gefühls. Es sei nur für Extremsituationen wesentlich, ihm komme aber keine allgemein-menschliche Relevanz zu. Die Antwort der Existenzphilosophen darauf lautet: Es gibt einen Grund für die scheinbare Irrelevanz der Angst im alltäglichen Leben, nämlich die Flucht vor der Angst. So wird nach Sartre das morgendliche Klingeln des Weckers als eine Aufforderung zum Aufstehen verstanden, aber nicht als ein Appell, eine existentielle Entscheidung zu treffen, nämlich entweder sein bisheriges Leben fortzusetzen und zur Arbeit zu gehen oder im Bett liegen zu bleiben und sich rauswerfen zu lassen. Durch diese roboterhaften Automatismen vermeiden die Menschen den Blick in den Abgrund der eigenen Freiheit.
Auch in der Natur herrscht Angst. Je mehr Natur, desto mehr Angst, könnte man sagen. Für ein Tier bildet sie Schutzmechanismen und entscheidet übers Überleben. Es ist die Angst, die es sowohl vorm Feuer wie auch vorm stärkeren Feind flüchten lässt. Mit wachsender Intelligenz verliert sie weitgehend diese Schutzfunktion. Man könnte also vermuten, dass die Angst für uns, den homo sapiens, eine ganz geringe Rolle spielen sollte. Dass dem nicht so ist, muss man erst gar nicht beweisen. Die Macht der Angst ist unangefochten. Sie scheint sich stets auszubreiten. Der moderne Mensch addiert zusätzlich zu den Überbleibseln der ursprünglichen, sozusagen tierischen, auch die Gegenwarts- und Zukunftsängste.
Die Angst lässt sich schwer verbergen und macht sich meist leicht bemerkbar. Sie bemächtigt sich verschiedener Symptome und schlägt sich unangenehm aufs Gemüt nieder. Der von Angst befallene Delinquent wir blass oder rot, fängt an zu zittern wie vor Kälte oder schwitzt wie in der Sauna. Sein Blutdruck steigt, seine Atmung schnellt in die Höhe. Er bewegt sich entweder hektisch oder erstarrt wie eine Salzsäule.
Dieses Repertoire steht uns in Angstzuständen in vielen Varianten zur Verfügung. Aber nicht wir selbst wählen aus dieser Palette aus, sondern das übermächtige Gefühl. Da es so mächtig ist, mögen wir es übermütig herauszukitzeln. Auf einer Achterbahn oder vor der Leinwand mit einem Horror schauen wir der Angst in die Augen und spielen sie herunter. Doch werden wir pragmatisch: Es gibt Situationen in unserem Leben, die uns Angst machen. Sei es die Verantwortungslosigkeit unfähiger Politiker, die Befürchtung, mit den Anforderungen der Zukunft nicht mehr Schritt halten zu können oder die Spinne an der Wand. Was also tun? Der erste Schritt ist die Analyse der Lage. Was macht uns Angst? Was ist es genau? Was würde passieren, wenn das eintritt, was wir befürchten?
Nehmen wir an, wir haben Flugangst. Die Vermutung liegt nahe, dass wir eine konkrete Angst vor einem Absturz haben (unfreundliche Stewardessen sind zwar zum Fürchten, sie bringen uns jedoch im Regelfall nicht um). Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit des Absturzes und heißt das für uns, dass wir auf jeden Fall sterben werden? In den Nachrichten hört man meist von der Anzahl der Toten, selten von der Anzahl der Überlebenden. Klar: „What goes up, must come down.“ Es sind schon Flugmaschinen abgestürzt, aber wer sagt uns, dass wir im statistisch unwahrscheinlichen Unglücksfall nicht der Glückspilz sind, der überlebt hat?
Um was geht es also? Angst ist immer eine Angst vor Verlust. Angst vor Verlust des Lebens, der Gesundheit, des Partners, des Wohlbefindens, der Existenz, des Arbeitsplatzes, der Selbstachtung und, und, und. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Am Ende steht jedoch immer die Befürchtung, etwas zu verlieren. Und selbst, wenn genau das eintritt: Was ist daran so schlimm? Selbst im Todesfall kommt immer etwas nach. Eine Tür geht zu, drei andere gehen auf. Dein Partner hat Dich verlassen? Vielleicht bietet Dir gerade das Leben die Chance, einen besser zu Dir passenden Lebensgefährten zu finden? Du wurdest entlassen? Vielleicht war es notwendig, damit Du endlich das tust, was Du schon immer tun wolltest. Du bist krank? Ein Wink, sich mehr um sich selbst zu kümmern? Marie von Ebner-Eschenbach drückte es folgendermaßen aus: „Wir sehen Situationen nicht so wie sie sind, sondern so, wie wir sind.“
Wie gehen wir also in der Regel mit unseren Ängsten um? Steigern wir uns in etwas hinein? Können wir unsere Angst noch toppen, indem wir in Panik verfallen? Lassen wir unser Leben von unseren Ängsten bestimmen? Sind es überhaupt unsere Ängste oder haben wir womöglich Ängste anderer übernommen?
Angst und Panik haben die unangenehme Eigenschaft, die sprichwörtliche Gesamtsituation zu verschlechtern, ja zu potenzieren. Also gilt es, Angst und Panik zu vermeiden oder so klein wie möglich zu halten. Wie machen wir das? Ruhig bleiben, tief durchatmen und Emotion rausnehmen. Der Angst wohnt eine unglaubliche Energie inne. Energien haben die Tendenz sich zu materialisieren. Einer solch starken Energie begegnet man am besten mit einer noch stärkeren Energie: Der Energie des Vertrauens!
Das Gegenteil von Angst ist nicht Mut, sondern Vertrauen. In der Regel fürchtet man sich nicht vor dem, in das man Vertrauen hat. Hegen wir vertrauensvolle Gedanken, versuchen wir die Situation anzunehmen. Ich möchte nochmals das Flugangst-Beispiel anführen: Was dem einen den kalten Schweiß auf die Stirn jagt, verschafft dem anderen ungeahnte Glücksgefühle („über den Wolken, scheint die Freiheit grenzenlos, alle Ängste alle Sorgen, gingen darunter verloren“ – Ihr kennt das Lied vom großartigen Reinhard Mey). Wenn Ihr also einmal wieder die Angst hinterher jagt: Bleibt stehen, dreht Euch um und seht der Angst direkt ins Auge:
Die Angst hat Angst vor Menschen, die sich ihr stellen.
Ersetzen wir Angst durch Vertrauen. Es ist meist nicht die Situation, die uns Angst macht, sondern unser Gefühl dazu. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, ausser dem, was uns passiert, wenn wir uns der Angst nicht stellten. Der amerikanische Psychologe Eugen E. Levitt beschreibt das Phänomen mit gebührender Erfurcht: „Die Angst ist so etwas wie ein hinterlistiger, bösartiger Golem, der uns eine Zeitlang gute Dienste zu leisten scheint, der sich jedoch schließlich gegen seinen Schöpfer wendet und ihn zu zerstören droht.“