Die Menschheit steht an der Schwelle zu einer zweiten Renaissance: Visionäre Unternehmen zeigen, welche Potenziale das Streben nach Höherem entfalten kann. Wie mögen wohl die Menschen in 50 oder 100 Jahren über die heutige Zeit denken und urteilen? Einerseits gab es Milliarden von Menschen, die täglich ihren Routinen folgten, streng reguliert lebten und arbeiteten, um sich mit imageträchtigen Konsumgütern zu umgeben, dabei sehnsüchtig auf ihre Rente warteten und es höchstens am Wochenende mal so richtig krachen ließen. Dann gab es Milliarden Menschen, die sich das alles nicht leisten konnten und täglich qualvoll um ihr Existenzminimum kämpfen mussten. Dazu kam eine globalisierte Industrie, die, angetrieben von ihrer Profitsucht, Natur und Mensch als Heizmaterial für den immer weiter vorangetriebenen Fortschritt verbrauchte. Aber worin bestand dieser Fortschritt eigentlich, werden sich künftige Generationen fragen: in einer rasant wachsenden Zahl von Depressionen und Erschöpfungszuständen? In einem größeren Artensterben, dem Vordringen von immer mehr Autokraten und Despoten, dem Wandel des Klimas, dem Clash der Kulturen?
Wahrscheinlich werden die Menschen in etwas fernerer Zukunft unsere gegenwärtigen Handlungsstrategien so absurd finden wie wir heute die mittelalterlichen Praktiken des Aberglaubens und Ablasshandels, der Alchemie, Hexenvertreibung und Inquisition. Aber was werden sie dann anders machen, und wie werden sie anders wirtschaften als wir heute?
Eine neue Renaissance
Vor mehr als 500 Jahren vollzog sich ein fundamentaler Wandel im menschlichen Denken und Handeln: Die Renaissance stellte vieles auf den Kopf, was vorher Selbstverständlichkeit war, entdeckte das Selbst als Mittelpunkt der Welt, befreite es aus seiner Einfügung in eine göttliche Ordnung und übertrug ihm die Verantwortung der Selbst-Bestimmung. Dieser Schritt leitete ein neues Zeitalter ein, die Neuzeit, in der Freiheit und Wohlstand, Glücksmaximierung und Weltbeherrschung die zentralen Programmbausteine der Menschheit wurden. Ein neues Denken bildete den Rahmen für ein anderes Handeln.
Die Zeit gab nun den Ton an. Sie wurde knapp und trieb die Entwicklung in einen Beschleunigungsrausch, der bis heute andauert, der uns aber mittlerweile auch rasant an die Grenzen unserer Möglichkeiten und an die der Welt bringt. Es knirscht und kracht an allen Ecken und Enden. Es scheint, als könnten wir mit dem nun jahrhundertelang antrainierten neuzeitlichen Denken, das uns ursprünglich befreite, die selbsterzeugten Probleme nicht mehr lösen.
Die logische Konsequenz kann da nur lauten, ein neues Denken zu initiieren, das den Rahmen sprengt, in dem wir operieren, das eine völlig neue Perspektive eröffnet. So wie die Renaissance die heiligen Kühe des Mittelalters schlachtete, müsste eine erneute Zeitenwende viele unserer heutigen Selbstverständlichkeiten auf die Müllhalde der Geschichte verfrachten. Damit wäre der Weg frei gemacht für ein Zeitalter, in dem die Absurdität unseres heutigen Vorgehens plötzlich offensichtlich würde und die sinnvolle Neuausrichtung zur zwangsläufigen Folge. Doch worin bestehen die uns behindernden heiligen Kühe?
Der Philosoph Charles Taylor hat in seinem epochalen Werk „Die Quellen des Selbst“ einige überkommene Selbstverständlichkeiten der Neuzeit freigelegt. Zwei davon sind in diesem Kontext entscheidend: zum einen der omnipräsente Utilitarismus. Wir bewegen uns gegenwärtig in einem engmaschigen Mittel-Zweck-Gewebe, das uns mit seiner quantifizierbaren Rationalität jederzeit den Weg zur maximalen Lösung weist: ein in sich abgeschlossenes System, das jedwede Gegenperspektive ausschließt. Damit zusammenhängend hat sich die „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“ als Generalmoral globalen Handelns durchgesetzt. Produktion und Reproduktion sind demnach unser alleiniger profaner Lebenszweck, der den Vorteil hat, ebenso mit einer quantifizierbaren Rationalität abgebildet werden zu können. Alles andere ist da bestenfalls Esoterik und schlimmstenfalls gefährlich.
Das nicht Quantifzierbare wird in irrationale Bereiche wie den der Religion abgeführt, wo es mittlerweile unübersehbar Blüten treibt. Qualitative Unterscheidungen wie die Idee eines höheren Lebens und Strebens wurden hierbei einfach zugunsten der quantitativen Konzepte größtmöglicher Zahlen geopfert. Die Vorstellung des „Höheren“ als Sinngeber und Leitinstanz wurde quasi wegrationalisiert. Das Resultat: Die Menschen stürzen sich „kopfüber in ihr homogenes Universum der rationalen Berechnung“ (Taylor).
Etwas Höherem dienen
Wenn wir an diesem Zustand etwas ändern wollen, müssen wir das grundlegend tun. Wir müssen dem Qualitativem gegenüber dem Quantitativen wieder zu seinem Recht verhelfen, die Unterscheidung von Pflicht und Neigung aufgeben und eine riesengroße Bresche schlagen für die Begeisterung, sich etwas Größerem, Höherem zu widmen, darin einen Sinn zu erkennen und sich dafür zu engagieren mit allem, was man ist und was man hat. Großartige Unternehmen tun heute genau das: Sie widmen sich einem großen, manchmal sogar ehrenvollen Sinn – und machen Unternehmenszwecke wie „Umsatz“ oder „Gewinn“ zum nachgelagerten Erfüllungsgehilfen:
- SpaceX hat die Besiedlung des Mars in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren zu seiner Mission auserkoren
- Viva con Agua ermöglicht die Wasserversorgung in Problemgebieten
- Starbuck’s will seine Cafés zum „Third Place“ (neben Arbeit und Zuhause) in unserem Leben machen
- Lego arbeitet dafür, dass das gute Spielen auf der Welt triumphiert
- Google verfolgt das Ziel, uns alle Informationen der Welt zugänglich machen
Gewiss kann man unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob dies alles unmittelbar zur Verbesserung der Welt führt. Meine These aber ist: In den genannten Fällen tut es dies zumindest mittelbar, weil jedes Unternehmen, das aus dem reinen Mittel-Zweck-Utilitarismus ausbricht und deutlich mehr verfolgt als die Maximierung der finanziellen Profite, zu einem Übertritt in das neue Zeitalter beiträgt. In das Zeitalter des Sinns, in dem die heiligen Kühe des Utilitarismus und der „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“ ersetzt werden.
Die Pointe ist: Unternehmen und Menschen, die „Driven by Purpose“ sind, die einen „höheren“ Sinn in den Mittelpunkt ihres Wirkens stellen, eröffnen eine neue Perspektive. Wo diese Perspektive genau hinführen wird, können wir noch nicht wissen. Wir können aber annehmen, dass sie uns deutlich mehr Möglichkeiten gibt, mit den Problemen der Neuzeit umzugehen – und uns zugleich die Kraft einer intrinsischen Motivation bereitstellt, die uns mit der Energie zur Veränderung und Verbesserung der Welt versorgt. Die große Lust des Lebens und Arbeitens besteht dann nicht im Maximieren von Materiellem und Erlebnissen, sondern in der Begeisterung und der Leidenschaft beim Folgen „höherer“ Tugenden.
Die Wiederentdeckung von Sinn, von Höherem und Größerem im ökonomischen und lebenspraktischen Alltag bietet uns die Möglichkeit, die Menschheit in eine völlig neue Ära, in ein neues Zeitalter zu überführen – so wie beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, nur sehr viel kondensierter. Darin liegt ein enormes Begeisterungspotenzial. Lassen Sie es uns gemeinsam nutzen!