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Irgendetwas stimmt nicht mehr, und keiner weiß warum. Die Menschen können nicht mehr richtig miteinander reden, nicht mehr miteinander diskutieren. Die Flüchtlingsfrage beispielsweise entzweit Freundeskreise, ja ganze Familien. Man fetzt sich wegen Trump, regt sich über die Eliten auf, schimpft auf Merkel und die Politik. Und jeder glaubt, es besser zu wissen als der andere. In den Sozialen Medien herrscht mittlerweile ein Erregungs- und Empörungspegel, der kaum noch auszuhalten ist.

Dabei gäbe es gute Gründe für ein wenig Zuversicht. Ökonomisch gesehen geht es uns gut – rund 60 % sind mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufrieden, wie eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach ergab. Die Flüchtlingskrise scheint halbwegs im Griff zu sein, die demographischen Verhältnisse wirken stabil – ein Phänomen Trump blieb uns bisher erspart – bisher. Die Deutschen könnten also durchaus optimistisch in die Zukunft blicken. Und doch scheint es, als wäre das Gegenteil der Fall. Überall herrschen Angst, Besorgnis und Wut. Laut Allensbach-Zahlen sieht ein Drittel der Deutschen ihr Land auf dem Weg in eine große Krise.

Was ist also aus den Fugen geraten? Viele Menschen haben das Gefühl, in einer unübersichtlichen, rasend beschleunigten Welt den „Halt“ zu verlieren – das meinen etwa Soziologen wie Heinz Bude oder Hartmut Rosa. Zugleich funktionieren alte Schemata nicht mehr, nach denen man früher alles so einfach sortieren konnte.

Was ist heute schon „rechts“ und was „links“? Woher weiß ich überhaupt, welche Werte die richtigen sind, was ich sagen darf und was nicht? Was verbindet uns eigentlich mit den Leuten, die seit 2015 in unser Land kommen? Werden wir tatsächlich überfremdet? Müssen die Deutschen sich wehren, um ihre Identität zu erhalten? So denken viele Verunsicherte – und die Problematik mit den Flüchtlingen ist nur eines von vielen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Phänomenen – Terrorismus, Finanzkrisen oder der Verlust sozialer Absicherungen sind nur einige Themenfelder, die unsere Zeit in beeindruckender Weise beeinflussen und in Zukunft mitbestimmen werden. Obwohl derartige Themen zunächst heterogen erscheinen, haben sie dennoch etwas gemeinsam: Wir können sie nicht beeinflussen, wissen nicht, wie sie sich weiterentwickeln werden und sind dennoch aufgefordert uns in irgendeiner Weise mit ihnen auseinander zu setzen.
Aber wie nehmen Menschen derartige makrosoziale Unsicherheiten für sich selbst wahr? Und welche Strategien entwickeln Menschen, um mit diesen zukünftigen Anforderungen zurechtzukommen?

Einige dieser Strategien zeigen sich in ganz offensichtlichen Symptomen:  Zu Beispiel im wiedererwachten Nationalismus, in religiösem Extremismus, in verklärender Nostalgie (früher war alles besser) oder – verzeiht mir den Ausdruck: in einer wachsender Verblödung breiter Bevölkerungsschichten – unter anderem hervorgerufen durch inhaltlich stark verkürzte, parolenhafte Argumentationsketten ihrer Protagonisten wie Donald Trump, Boris Johnson oder generell einem Typus Politiker, der nur einfache Antworten auf komplexe Fragen gibt und damit einen der Grundpfeiler der Aufklärung „sapere aude“ ad absurdum führt.

Wo meine lieben Leserin*innen können also in dieser haltlosen Welt Menschen noch Halt finden?

Einen wertvollen Fingerzeig auf die Antwort gab Joachim Gauck in seiner letzten Rede als Bundespräsident – mit einem einzigen Begriff. Die entscheidende Trennlinie in unserer Demokratie verlaufe nicht zwischen Alteingesessenen und Neubürgern, auch nicht zwischen Religionen, sagte Gauck

Was zähle, das sei nicht die Herkunft – sondern die „Haltung“.

Gleich fünfmal erwähnte Gauck den Begriff, im Zusammenhang mit der Europäischen Union, der Rechtstreue der Bevölkerung und der Erziehung unserer Kinder. Ich zitiere weiter: „Ich möchte euch fragen: Was können wir unseren Kindern und Enkeln mitgeben, damit dieses friedliebende, freie und soziale Deutschland erhalten werden kann? Vor allem: Mit welcher Haltung kann das gelingen? Gaucks Fragen sind es wert, diskutiert zu werden. Dabei dürfen wir uns aber nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben. Haltung – das ist ein Begriff für politische Sonntagsreden und Business-Ratgeber – er kann alles Mögliche bedeuten und nichts zugleich. Wer also von Haltung redet, muss sagen, was er damit meint.

Haltung scheint das Wort der Stunde zu sein. Die Demokratie ist bedroht, die Stimme der Vernunft nur noch eine unter vielen. Die USA drohen unter Trump in einen autoritären Staat zu kippen, in Europa stehen die Populisten vor der Tür, die Gesellschaft ist gespalten. Der große US-amerikanische Zeithistoriker Timothy Snyder gibt den Bürgern sogar Ratschläge für den Widerstand gegen eine drohende Diktatur. In der Stunde der Gefahr scheint jetzt Haltung gefragt. Flagge zeigen, auf die Straße gehen, sich engagieren – öffentlich wie im privaten Freundeskreis. Aber was bedeutet Haltung überhaupt? Warum soll es gut sein, eine Haltung zu haben? Und – auf welche Haltung können wir bauen?

Unter Haltung verstehen wir zum einen die Körperhaltung, zum anderen eine bestimmte Grundorientierung, die unser Denken, Fühlen und Handeln prägt. Wer Haltung hat zeigt Rückgrat. Er verbiegt sich nicht, er knickt nicht ein, er dreht sich nicht wie ein Fähnchen im Wind. Schon die Körperhaltung eines Menschen signalisiert oft eine bestimmte Attitüde, Gefühlslage oder Persönlichkeit. Zugleich kann etwa eine selbstbewusste, aufrechte Haltung nach Außen Autorität und nach innen Selbstvertrauen vermitteln.

Die Körperhaltung einer Person lässt sich sofort erkennen. Bei der inneren Haltung ist es meist viel schwieriger. Eine Haltung ist viel mehr als bloß eine bestimmte Einstellung. Wer gegenüber der Deutschen Bahn „kritisch eingestellt“ ist, hat eine gewisse Disposition, von den schlechten Leistungen der Bahn überzeugt zu sein. Jede Haltung repräsentiert eine spezielle Einstellung – aber eine Einstellung nicht unbedingt eine Haltung.

Einstellungen können moralisch wertvoll, neutral oder wertlos sein. Eine Haltung nicht.

Haltung ist umfassender als eine Einstellung, Sie muss gelebt und auch anhand objektiver Kriterien beurteilt werden können. Sie gibt uns Halt, wenn alles andere wegbricht. Man könnte Haltung definieren als inneren Kompass, der die Richtung auf ein bestimmtes ethisches Sollen weist – etwa niemals aufzugeben, Rückschläge in Kauf zu nehmen, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen.

Eine Haltung kann auch sein: kooperativ zu arbeiten, tolerant mit Anderen umzugehen, verantwortlich zu wirtschaften, fürsorglich zu sein, umweltbewusst und nachhaltig zu leben.

Eine Haltung ist nichts Abstraktes. Sie zeigt sich in konkreten Situationen, sie ist mit dem Leben verwoben. Unsere Haltung kann beim Butterbrot schmieren ebenso aufscheinen wie in der Art und Weise, wie wir mit Büchern umgehen, ob wir pünktlich sind oder hilfsbereit.

Eine Einstellung kann jeder haben, vom feinsinnigen Intellektuellen bis zum Straßendieb, vom Konzern-CEO bis zum Hilfsarbeiter. Eine Einstellung ist per se keine Tugend, erst recht keine demokratische. Eine Einstellung haben auch Rassisten, Antisemiten und Verschwörungstheoretiker. Auch Donald Trump hat eine, wenn sie vielleicht auch nur in seinem Narzismuss und der Überzeugung besteht, dass Politik funktioniert wie ein Immobilien-Deal.

Im Unterschied zur Haltung ist Einstellung zunächst einmal ein nichtssagender Begriff. So oder so eingestellt zu sein – d.h. nur, dass sich im Sagen oder Tun einer Person ein gewisses Muster erkennen lässt. Im Unterschied dazu kann man eine Haltung nicht sagen, sondern nur zeigen – das unterscheidet sie von einer bloßen Einstellung, Überzeugung oder Meinung. Die loyale Haltung eines Chefs gegenüber Mitarbeitern zeigt sich eben darin, dass er für diese eintritt, wenn es nötig ist. Zwar kann der Nachbar von sich behaupten, dass er eine tolerante Haltung hat. Aber wie tolerant er wirklich ist, merkt man erst, wenn man eine laute Party feiert.

Unsere Haltung in bestimmten Fragen ist meist die lang gereifte Frucht von Erfahrungen und Gewohnheiten. Sie ändert sich nicht von heute auf morgen. Und ebenso wenig lassen wir uns ohne Weiteres dazu bewegen, unsere Haltung aufzugeben – nicht zufällig stammt das Wort vom Mittelhochdeutschen „hüten“ ab. Jede Haltung ist charakterisiert durch ein gewisses Beharrungsvermögen – sonst wäre es ja keine. Nicht immer beruht sie auf Gründen. Zugleich aber lenkt sie unser Denken, Fühlen und Handeln. 

Eine Haltung ist weder beliebig, noch darf sie dogmatisch sein. Sie darf nicht blind machen und dazu führen, dass wir Fakten nicht zur Kenntnis nehmen oder sie einseitig interpretieren, dass wir in Vorurteile und Stereotype, ja sogar in Hass verfallen. Ausländerhass, Menschenfeindlichkeit oder Egoismus sind Einstellungen, vor denen uns unsere Haltung bewahren kann.

Eine Einstellung kann bösartig, verblendet und gefährlich sein. Zugleich kann selbst die beste und anständigste Einstellung die Haltung nicht ersetzen. Jemand kann tolerant gegenüber anderen Menschen eingestellt sein und trotzdem keine tolerante Haltung haben, weil ihm der innere Kompass fehlt und er seine Überzeugung nicht nach Außen lebt. Aber wozu überhaupt eine solche Grundorientierung?

Eine Haltung, so glauben wir, ist überlebensnotwendig. Wir brauchen Sie, um Halt zu finden. Und wir brauchen sie gerade heute in einer haltlosen Welt. So vieles, auf das wir bisher bauen konnten, beginnt zu bröckeln oder ist längst zusammengebrochen: religiöse Bindungen, politische Lager, soziale staatliche Absicherung, familiäre Traditionen. Woran können wir uns in dieser Zeit noch festhalten?

Freundschaften können uns in schwierigen Situationen auffangen, aber sie tragen uns nicht durchs Leben. Die Lebensversicherung mag uns beruhigen, beschützt uns aber nicht vor den Risiken des Wandels. Ein guter Job gibt uns vielleicht Anerkennung und das Gefühl von Zugehörigkeit, aber was, wenn er morgen schon der Digitalisierung zum Opfer fällt?

Wer Haltung zeigt, muss nicht jede Situation bis ins Letzte durchdenken. In einer komplexen Welt ist das oft auch gar nicht möglich. Eine Haltung zu haben kann uns helfen, diese Komplexität zu reduzieren und die innere Grundorientierung in Handeln zu übersetzen. Wir müssen nicht bis ins Detail verstehen, warum wir unserem Kollegen vertrauen sollen, um dennoch mit ihm tagtäglich zu kooperieren, weil das eben unserer Haltung entspricht. Eine Haltung schützt nicht vor Fehlern. Aber sie ermöglicht uns, unser Leben auf verantwortungsvolle Weise zu vereinfachen.

Es gibt viele Einstellungen, aber nicht auf jede können wir bauen. Guten Gewissens können wir nur auf solche bauen, auf die wir bauen sollten – Haltungen, die den Normen eines Wir entsprechen, dass sich um Vernunft, Selbstreflexion und Herzensbildung bemüht. Wer immer auf etwas Anderes setzt, den können gerade wir in dieses wir nur einladen.

Eine Haltung, auf die wir bauen können, darf keine Imitation sein und auch keine künstliche Mischung aus Disparaten. Ein Mensch, auf den wir bauen können, muss, was immer er sagt und tut, zutiefst persönlich meinen. Man erkennt ihn daran, dass er das, was er an Aussagen, Eigenschaften, Verhaltensweisen veröffentlicht, in einem langen Prozess von Übung und Gewohnheit aus der eigenen Person heraus entwickelt– und nicht irgendwo abgeschaut hat.

Ein klassisches Beispiel ist der Kaiser-Philosoph Marc Aurel: „Man muss aufrecht stehen, ohne aufrecht gehalten zu werden.“, notierte der Stoiker in seinen Selbstbetrachtungen. Dieser Satz beschreibt Haltung nicht nur, er ist auch Teil dieser Haltung. Marc Aurels Aussage stellt kein Bonmot dar, keine isolierte Erkenntnis, sie ist Teil einer schriftlichen Übung, die er regelmäßig während des Krieges gegen die Quaden und Markomannen nachging. Der Kaiser tut das, was er in Friedenszeiten gewohnt war zu tun: Er führt einen Dialog mit sich selbst mit dem Ziel, sich wieder und wieder zur Beherzigung der stoischen Dogmen zu ermahnen und sie zu einer inneren Haltung zu verfestigen: Urteile objektiv | handle gerecht | akzeptiere das Unabänderliche heiter und gelassen, denn Du bist Teil eines Ganzen. Für Marc Aurel und die Stoiker ist die Absicht, Gutes zu tun, wichtiger als das Ergebnis.

Eine stoische Haltung – der Ursprung des modernen Begriffs der Menschrechte – gründet auf dem Glauben in den absoluten Wert der Person, ihrer Fähigkeit zur vernünftigen Reflexion und in ihrer ethischen Grunddisposition. „Wenn Du eines Tages nicht aufstehen magst“ schreibt dereinst Marc Aurel an sich selbst „bedenke: ich erwache, um als Mensch zu wirken.“

Die stoische Haltung ist ethisch und ästhetisch zugleich. Sie gibt ihren Inhalten eine klare Form. Der echte Stoiker handelt so, dass die Entscheidungen, die er im Laufe der Zeit trifft, sich in der Rückschau als kohärent und konsistent zueinander erweisen, und er hat den Anspruch, sein Tun im Bewusstsein der Untrennbarkeit von Form und Inhalt, von Ethik und Ästhetik vorausschauend zu gestalten. Seine Haltung ist tragfähig auch in dem Sinne, dass sie ihn ermächtigt, die ihm zur Verfügung stehende Freiheit zu nutzen, um sein Leben „schön“ zu gestalten, ihm eine Ordnung zu verleihen. Der Stoiker hat nie Anlass, sein Dasein zu bejammern, er kann es ja durchdenken, überdenken, beschreiben, überschreiben.

Die eigene Existenz überschreiben – oder über sie schreiben. Das ist eine Haltung, die sogar angesichts des Todes tragen kann. 2010 erkrankte der Autor und Maler Wolfgang Herrndorf an einem Hirntumor und entschied, seine restliche Lebenszeit der (Schreib-)Arbeit zu widmen. Er begann, ein digitales Tagebuch zu schreiben, um seine Freunde über seinen Zustand auf dem Laufenden zu halten. Aus dem Tagebuch wurde ein öffentlich geteilter und vielfach kommentierter Blog über Klinikaufenthalte, Romanschriftstellerei, Freundschaft und den immer neuen Versuch, die Angst mittels trotziger Ironie in Schach zu halten.

Sooft es ging, wob Herrndorf an seinem Text – bis er sich 2013 erschoss. Man kann Herrndorfs Schreibarbeit als Chronik eines angekündigten Todes lesen. Man kann sie aber auch als Triumpf der Ästhetik über die Verzweiflung bewerten. Als eine Haltung, die ihrem Urheber Würde verlieh und ihn so lange wie möglich am Leben erhielt, weil sie diesem eine Form, eine Struktur gab.

Bei jeder Haltung also, die den Namen verdient, gehören Form und Inhalt zusammen, also das „Was“ und das „Wie“. Wenn jemand etwa eine konservative Haltung hat, dann erwarten wir auch ein bestimmtes Auftreten, einen bestimmten Kleidungsstil. Eine pragmatische Haltung wird sich in der Art und Weise manifestieren, wie jemand an Probleme herangeht, eine tolerante Haltung vielleicht in der Art, wie man mit Andersdenkenden redet. Auch deshalb kann eine Haltung ein Leben gleichsam zusammenhalten, indem sie eine Lebensform mitkonstituiert.

Die Haltung eines Menschen zeigt sich dort, wo sie sich bewähren muss. Jemand mag eine liberale, weltoffene Einstellung haben. Aber ob er wirklich eine Haltung hat, erkennt man daran, dass er sie auch gegen Widerstände beibehält. Jede Haltung muss durch bestimmte Lebenssituationen geprüft werden. Man kann leicht „Haltung“ zeigen, wenn man sie nicht beweisen muss. Insofern gehört zur Haltung immer eine gewisse existenzielle Grundspannung. Es muss auch Anstrengung ja Überwindung kosten, seine Haltung durchzuhalten. Das zeigt sich schon bei der Körperhaltung. Wer immer aufrecht sitzen will, braucht nicht nur eine kräftige Rückenmuskulatur. Er muss seinen Körper in eine konstante Spannung bringen, um nicht beim ersten Anflug von Müdigkeit sofort wieder zu erschlaffen. Analog ist es auch mit unserer inneren Haltung. Eine Haltung „hat“ man nicht einfach. Man muss sie in der Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen gleichsam ständig trainieren und weiterentwickeln.

Eine Haltung wächst mit ihren Herausforderungen – und den Möglichkeiten, auf die sie täglich trifft. In einer komplexen Lebenswelt kann alles immer anders kommen, als wir denken. Wir können nicht wissen, wie sich andere verhalten werden. Eine bestimmte Haltung kann uns helfen, diese Komplexität für uns und andere zu reduzieren. Einerseits gibt uns die Haltung selbst Orientierung, andererseits können uns die anderen, sofern sie unsere Haltung kennen, besser einschätzen. Eine klare Haltung kann daher Vertrauen bilden. Eine Person mit klarer Haltung kann ein Vorbild für andere sein: Mutter Teresa, Martin Luther King, Sophie Scholl, Edward Snowden – weitere Persönlichkeiten, die vor allem durch ihre Haltung zum Vorbild taugen, seht Ihr in den Bildern hinter mir.

Wir glauben, dass es unerlässlich ist, eine Haltung zu haben. Wir brauchen sie, um uns in der Welt zu orientieren, um unsere Identität „durchzuhalten“ – um zu wissen, wer wir sind. Aber selbst die anständigste Haltung darf nicht erstarren. Und noch weniger darf sie in Selbstgefälligkeit, Selbstgerechtigkeit und Dogmatismus umschlagen. Bauen können wir nur auf Haltungen, die zwar stabil sind, aber offen bleiben für Veränderungen.

Es kann schwer, ja unmöglich sein, eine Haltung durchzuhalten. Und doch liegt darin die existenzielle Spannung, die jede Haltung ausmacht. Ein Chef mag einen vertrauensvollen Umgang mit seinen Mitarbeitern pflegen. Aber wenn sein Vertrauen immer wieder enttäuscht wird, dann wird er vielleicht auch mal auf Kontrolle setzen. Jemand mag eine liberale, weltoffene Haltung haben – und trotzdem den Flüchtlingszustrom problematisch finden. Wer seine eigene Haltung ernst nimmt, muss immer wieder neu darum ringen. Und das erfordert die immer wieder neue Auseinandersetzung mit der Realität.

Eine tragfähige Haltung, so glauben wir, erfordert eine gewisse Wahrhaftigkeit – und damit die Liebe zur Wahrheit selbst. Es reicht nicht zu sagen, was man denkt, und zu tun, was man selbst für richtig hält. Im Lichte der eigenen Überzeugungen mag man bestimmte Fakten unterschiedlich bewerten. Aber was die Fakten sind, das ist keine Frage der Haltung. Eine postfaktische oder postrationale Haltung ist daher nichts, worauf wir bauen können oder sollen.

Wenn alle Fakten dagegensprechen, dann muss auch die scheinbar unerschütterlichste Haltung nachgeben, erst recht dann, wenn es darum geht, anderen nicht zu schaden. In diesem Fall steht auch die unbedingte Wahrheitliebe selbst zur Disposition. Bis heute fällt es schwer zu verstehen, dass Kant nicht einmal eine Notlüge billigte, um das Leben eines Menschen zu retten. Unmenschlichkeit ist keine Haltung, sondern einfach Unmenschlichkeit.

Haltungen sind selbstverständlich kritisierbar. Nicht jede Haltung muss man akzeptieren. In einer pluralistischen Gesellschaft müssen wir es aushalten, dass Menschen auch mal eine Haltung an den Tag legen, die uns nicht passt. Aber man muss nicht alles hinnehmen. Eine Haltung zeigt sich gerade auch darin, bestimmte andere Einstellungen abzulehnen – und womöglich sogar entschieden zu bekämpfen. Gerade deswegen ist Haltung heute gefragt, wenn es darum geht, die Demokratie und den Pluralismus zu verteidigen.

Welche Kriterien unterscheiden also eine Haltung von einer bloßen Einstellung?

  1. Die Haltung muss konsequent gezeigt werden. Wer einmal einer alten Dame über die Strasse hilft, muss es immer, gewohnheitsmäßig, selbstverständlich tun.
  2. Die Haltung muss gerade in Extremsituationen, unter größten Gefahren für die Person stabil bleiben, wie man am Beispiel Marc Aurel sieht.
  3. Haltung muss mit den Normen unseres „Wir“ vereinbar sein. Das heißt, sie darf anderen nicht schaden oder intolerant, menschenfeindlich, dogmatisch sein. Sie muss dem Gewaltsamen und Falschen das Vernünftige und Ehrliche entgegensetzen.
  4. Haltung sollte nicht veränderungsresistent sein. Sie muss flexibel genug sein, um sich an die Optionen der Umstände anzupassen. Wenn ein guter Freund plötzlich rechtsradikale Positionen einnimmt, müssen wir ihn aufgrund unserer Haltung zwar verurteilen. Aber unsere Haltung als Freund gebietet es, dass wir auch versuchen zu verstehen, warum er nun so denkt.
  5. Die Haltung muss einen bestimmten Stil haben. Dazu gehört die Praxis regelmäßiger Selbstreflexion und der Wille, sein Leben zu gestalten, ihm eine Form zu geben, die sich in einer sinnvollen Erzählung zusammenfassen lässt. Eine gute Übung dabei ist, ab und zu einen Nekrolog auf sich selbst zu schreiben – das ist oft sehr erkenntnisreich.

Die existenzielle Herausforderung des modernen Menschen ist vielleicht die, dass er kein sicheres Fundament hat, auf das er bauen kann, wie etwas Religion und Tradition. Unsere Haltung steht selbst auf schwankendem Boden. Wir müssen an sie glauben, auch wenn wir nicht gläubig sind. Was wir heute daher brauchen, ist die Fähigkeit, mit unserer eigenen „haltlosen“ Haltung und jeder der anderen zurechtzukommen.

Die philosophische Haltung kann uns dabei helfen. Sie ist eine zutiefst demokratische Haltung. Die Demokratie lebt vom Streit der Meinungen, vom Respekt für andere Menschen und deren Überzeugungen – und davon, dass keine Meinung oder Einstellung einen absoluten Geltungsanspruch stellen kann.

Die politische Krise von heute ist auch eine Krise der Philosophie. Diese Krise ist geprägt davon, dass Menschen verschiedener politischer Strömungen nicht mehr miteinander reden können: unerreichbar sind für die Argumente und Gründe der anderen Seite. Argumente und Gründe – das ist die angestammte Domäne der Philosophie. Aber Philosophie ist mehr als das. Würde sie uns nur mit Argumenten bewaffnen, wäre sie bloße Schauspielerei. Philosophen, Liebhaber der Weisheit, werden wir vor allem durch eine philosophische Haltung: offen, kritisch, liebevoll, fragend, radikal und wahrhaftig. Es ist die Haltung, die Sokrates vorgelebt hat und die Cicero als tugendhaft pries. Man kann diese Haltung annehmen, ohne mit den Argumenten Sokrates oder Ciceros oder von irgendjemand anderem einverstanden zu sein. Man muss mit gar nichts einverstanden sein. In dieser Haltung kam Sokrates mit Menschen ins Gespräch, die völlig anders dachten und sprachen als er. Ebenso können heute Menschen mit der Haltung ins Gespräch kommen, die politisch und sozial in völlig verschiedenen Welten leben. Man braucht keine humanistische Bildung, um in diese Haltung zu finden, man muss nicht die großen Philosophen gelesen haben. Man muss sich keinen Dogmen unterwerfen oder irgendwelche Glaubenssätze hinnehmen. Es braucht nur einen kleinen Ruck, eine Hinwendung zu Wahrheit und Verständigung.

Niemand wird jemanden mit Argumenten überzeugen können, eine philosophische Haltung anzunehmen. Aber eine Haltung kann auch anders wirken: Als menschliches Vorbild. Mit guter Haltung kann man auch Menschen beeindrucken, womöglich auch beeinflussen, mit denen sonst keine Verständigung möglich ist. Sie ist die Voraussetzung für Verständigung.

Auf dieser Ebene besteht die Chance, wieder zusammenzukommen, zum Streiten und zum Diskutieren. Es mag offen sein, was herauskommt, ob überhaupt etwas herauskommt. Meinungen mögen kommen und gehen, aber wer eine offene, wahrhaftige Haltung hat, kann bei ihr bleiben.

Es ist wichtig seiner Haltung treu zu bleiben. Aber es auch ebenso wichtig, bekehrbar zu bleiben. Unsere moderne Identität muss diese paradoxe Spannung aushalten, weil sie genau auf dieser Spannung gründet. In diesem Sinne schafft Haltung eine Identität, auf die wir bauen können.

Gerade weil diese philosophische Haltung eine Art Meta-Haltung ist, ist sie genau die richtige Haltung für diese Zeit der scheinbar unvereinbaren Einstellungen und Meinungen. Sie ersetzt andere Haltungen nicht. Sie sperrt nichts, unterdrückt nichts, setzt keine Dogmen. Sie tritt einen entscheidenden Schritt zurück und hilft uns, eine reflektierte Haltung in bestimmten Fragen zu entwickeln, eine Haltung, auf die wir bauen können – und zugleich offen, beweglich und bekehrbar zu bleiben. Diese Haltung zu zeigen, kann die Demokratie vor ihren dogmatischen Feinden schützen. Und jeden Einzelnen von uns dazu ermutigen, mutiger zu sein.

 

 

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