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Welche Gedanken kommen Dir, wenn du das Wort „Leistungsgesellschaft“ hörst? Beschreibt das Wort eher eine notwendige Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand? Suggeriert es eine ausgeprägte Ellenbogenkultur in einer Welt knapper Ressourcen? Schränkt die Leistungsgesellschaft Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung ein oder ist sie die Prämisse für individuelle Exzellenz? Sind Menschen von Natur aus leistungsorientiert oder haben historische Ereignisse das Prinzip der Leistung entstehen lassen? Wenige Begriffe werfen so viele Fragen auf und polarisieren Meinungen so stark wie der Begriff der Leistungsgesellschaft. Was genau aber verbirgt sich eigentlich hinter der Leistungsgesellschaft und wo kommt das Leistungsdenken überhaupt her?

Ganz allgemein kann eine Leistung als Ergebnis eines Prozesses beschrieben werden, der mit viel Aufwand bzw. Arbeit verbunden ist. So kann ein erfolgreicher Projektabschluss, ein architektonisches Meisterwerk oder ein neuer Weltrekord bei den olympischen Spielen als große Leistung geadelt werden. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt jedoch schnell, dass die Faszination für Leistung und Leistungsfähigkeit keinesfalls ein modernes Phänomen darstellt. Viele Kulturen haben schon in der Vergangenheit versucht, ihre Größe und Macht über bemerkenswerte Leistungen zur Schau zu stellen. Dazu zählen beeindruckende Bauwerke wie die sieben Weltwunder, aber auch radikale Innovationen, wie etwa die Bewässerungsmethoden am Nil. Auch im sportlichen Wettbewerb hat das Prinzip der Leistung eine lange Historie. So strömte die römische Bevölkerung um Christi Geburt in Scharen ins Kolosseum, um den Gladiatorenspielen beizuwohnen. Dabei erfreuten sich insbesondere diejenigen Gladiatoren größter Beliebtheit, welche herausragende Leistungen in der Arena zeigten.

Beschreibt der verhältnismäßig neue Begriff der Leistungsgesellschaft ein Phänomen, das schon immer existiert hat? Diese Frage muss verneint werden. Denn auch wenn dem Menschen ein gewisses Leistungsmotiv innewohnt, so haben sich die spezifischen Merkmale der modernen Leistungsgesellschaft erst während der Aufklärung und der daran anknüpfenden Industrialisierung herausgebildet.

ALS WISSEN MIT EINEM MAL MACHT WURDE

Im vorindustriellen Zeitalter lebte der Großteil der Bevölkerung als Bauern in dörflichen Strukturen. Das tägliche Leben war geprägt durch feudalistische Gesellschaftsstrukturen. Die Feudalherren besaßen Grund und Boden und waren in der Regel Adelige oder Geistliche. Demgegenüber stand eine Vielzahl an Bauern, die auf den Feldern der Feudalherren arbeiten und hohe Abgaben zahlen mussten. Die Sorge der Bauern um das tägliche Brot war die wesentliche Triebfeder für Produktivität. Leistung war notwendig, um nicht zu verhungern, sie wurde jedoch nicht – so wie heute – als Möglichkeit für sozialen Aufstieg aufgefasst. Eine starre ständische Gesellschaftsordnung verhinderte die soziale Mobilität.

Erste Zeichen eines Umdenkens zeigten sich erst während der Aufklärung im 18. Jahrhundert. „Sapere aude!“ – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, war der von Immanuel Kant auserkorene Leitspruch dieser Bewegung. Dahinter verbarg sich ein Menschenbild, welches in jedem Menschen ein Potenzial für Mündigkeit und Autonomie, ein Potenzial für die Entwicklung zum Weltbürger sah. Der eigene Verstand sollte benutzt werden und blinder Gehorsam wurde angeprangert – Wissen war Macht. Wer dieses Potenzial nicht realisiert, so die Auffassung Kants, war entweder zu faul oder zu feige dafür, war platt gesagt selbst Schuld. Die Ideen der Aufklärung und die Belastung der Bevölkerung durch Hungersnöte gipfelten Ende des 18. Jahrhunderts in der Französischen Revolution.  In ihrer Konsequenz führte sie zur Abschaffung der Ständegesellschaften in Europa. Mit einem Mal schienen Herkunft oder Beziehungen nicht mehr als notwendiges Kriterium für einen hohen Sozialstatus in der Gesellschaft, viel entscheidender waren die Bemühungen und die Bildung des einzelnen. Von nun an sollte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter den Menschen herrschen.

DIE GEBURT DER MODERNEN LEISTUNGSGESELLSCHAFT

Doch auf breite Teile der Bevölkerung übertrugen sich die Ideale der Aufklärung nicht unmittelbar. Frauen erhielten nach wie vor kaum Zugang zu Bildung und der Großteil der Bevölkerung musste unter schlechten Bedingungen arbeiten. Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der Industrialisierung und der sozialen Frage. Mechanische Spinn- und Webmaschinen erlaubten eine deutliche Produktionssteigerung von Textilien und die Erfindung der Dampflokomotive läutete einen Paradigmenwechsel im Transportwesen ein. Arbeitsteilung machte Arbeitsprozesse effizienter und die Steigerung der Produktivität wurde Maxime unternehmerischen Handelns. Doch gleichzeitig war das 19. Jahrhundert gekennzeichnet durch Elend und Armut.

Es war das Zeitalter des Pauperismus.  Pa_uperismus (vom lateinisch pa_uper = „arm“ abgeleitet) bezeichnet die Verelendung großer Bevölkerungsteile unmittelbar vor der Industrialisierung bzw. das für die damaligen Eliten noch unerklärbare Phänomen zunehmender Verarmung der Arbeiterschicht.

Große gesellschaftliche Gruppen wie Bauern und Handwerker verarmten oder mussten unter widrigsten Arbeitsbedingungen in Fabriken schuften. Ein 12-Stunden-Arbeitstag war nichts Ungewöhnliches, auch nicht für Kinder. In den Städten herrschte ein Überangebot an Arbeit und ein Mangel an Wohnraum, das Elend war vielerorts unübersehbar. Zwar war die Ständegesellschaft ein Relikt der Vergangenheit, aber von Fairness im Sinne der Gleichheit und Freiheit konnte nicht gesprochen werden: Einige wenige profitierten und viele blieben dabei auf der Strecke.

Und auch wenn das Zeitalter der Industrialisierung nur wenig mit unserem modernen Leistungszeitalter gemein hatte, zeigt sich hier deutlich die Entstehung der modernen westlichen Leistungsgesellschaft. So wurde im Jahr 1855 in Großbritannien die „Civil Service Commission“ ins Leben gerufen, um das Rekrutierungsverfahren im öffentlichen Dienst zu reformieren. Öffentliche Positionen wurden von nun an in einem Wettbewerbsverfahren vergeben – der leistungsstärkste Kandidat gewann. Vielerorts wurden Aristokraten sukzessive aus gesellschaftlichen Schlüsselstellen verdrängt und durch Bildungsbürger und Unternehmer ersetzt.

Ein kleiner Exkurs zwischendrin: Was ist eigentlich passiert, dass heute unser Parlament zu großen Teilen aus Lehrern, Politikwissenschaftlern und Juristen besteht. Ein breiter Querschnitt unterschiedlicher Berufe bzw. Herkünften ist jedenfalls nicht mehr zu verzeichnen. Bäcker, Polizisten oder Lokomotivführer findet man eher selten.

Doch zurück zum Thema:

Auch in den USA lässt sich zu dieser Zeit bereits deutlich der Keim der modernen Leistungsgesellschaft spüren. Inspiriert durch die „Civil Service Commission“ in Großbritannien wurde 1883 der „Pendleton Civil Service Reform Act“ verabschiedet. Leistungsfähigkeit sollte auch hier über die Auswahl der Kandidaten entscheiden. Hoher Sozialstatus war kein Geburtsrecht mehr. Es wurde zum Leistungsrecht.

Die Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit für die Besetzung öffentlicher Posten wurde nicht im Europa des 19. Jahrhunderts erfunden. Im 11. Jahrhundert wurden ich China bereits ähnliche Mechanismen eingesetzt: Die chinesische Beamtenprüfung. Hat die moderne Leistungsgesellschaft ihre Ursprünge also in China? Wohl kaum. Denn das Zeitalter der Industrialisierung hebt sich insbesondere durch ein Merkmal von sämtlichen vorangegangen Epochen ab: eine spürbare Beschleunigung in vielen Lebensbereichen. Kommunikation über Telegraphen war um ein Vielfaches schneller als die Kommunikation per Brief und Brieftaube. Die Dampflokomotive ermöglichte eine schnellere Fortbewegung und einen schnelleren Transport als die Kutsche. Maschinen erhöhten den Output im Vergleich zu konventioneller Handarbeit erheblich – deutlich mehr konnte deutlich schneller hergestellt werden. Durch den technischen Fortschritt war das Leben insgesamt schneller geworden.

BESCHLEUNIGUNG, UNSICHERHEIT UND SELBSTOPTIMIERUNG: DIE MODERNE LEISTUNGSGESELLSCHAFT

Der Trend der Beschleunigung fand aber keinesfalls in der Industrialisierung sein Ende. Eine weitere signifikante Beschleunigung erfuhr unsere Gesellschaft durch die Digitale Revolution im Ausklang des 20. Jahrhunderts: Computer und Internet hielten Einzug in den Alltag. Heutzutage kann jeder von überall aus Emails einsehen und versenden. Das Smartphone erlaubt ständige Erreichbarkeit, erfordert es in einigen Bereichen sogar. Neben dem technologischen Fortschritt hat auch die Globalisierung unser Leben beschleunigt. Ein beeindruckender wirtschaftlicher Aufschwung von beispielsweise China oder Südkorea hat in Kürze neue wirtschaftliche und politische Akteure auf die internationale Bühne gebracht. In mehr und mehr Ländern entstehen konkurrenzfähige Unternehmen und intensivieren den internationalen Wettbewerb. Das hat zur Folge, dass Arbeitsprozesse verstärkt unter dem Gesichtspunkt maximaler Effizienz evaluiert werden. Nur wer bei hohen Geschwindigkeiten mithalten kann, bleibt wettbewerbsfähig.

Auch die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft hat sich seit der Industrialisierung stark gewandelt. Feministische Bewegungen und die Bürgerrechtsbewegung der Afro-Amerikaner haben den Pool an qualifizierten Arbeitskräften deutlich erweitert. Heute wird beruflicher Erfolg unabhängig von Geschlecht oder Hautfarbe erwartet. Gleichzeitig erhöht sich der Bildungsdurchschnitt der westlichen Bevölkerung kontinuierlich. Der Anteil der Absolventen mit höherem Bildungsabschluss ist deutlich gestiegen, die kognitive Mobilisierung ist gut zu beobachten. Das führt jedoch zu einer Art Bildungsinflation: Ein Abschluss allein garantiert nicht mehr Beschäftigung, reicht häufig nicht aus, um positiv aufzufallen. Als Konsequenz wird der Abschluss mit Auslandserfahrungen, herausragenden Noten, ehrenamtlichem Engagement und mehrjähriger Berufserfahrung ausgeschmückt. Das Credo der arbeitenden Bevölkerung im 21. Jahrhundert heißt Lebenslauf- und Selbstoptimierung.

Selbstoptimierung ist auch als Antwort auf die zunehmende wahrgenommene Unsicherheit in der Gegenwart zu verstehen: Berufliche Unsicherheiten durch befristete Verträge, gesellschaftliche Unsicherheiten durch die Flüchtlingsfrage und nicht zuletzt die Finanzkrise hat gezeigt, dass kontinuierliches Wirtschaftswachstum keinesfalls die Regel in der westlichen Welt sein muss. Es sind diese drei Elemente:

  • Beschleunigung,
  • Unsicherheit und
  • Selbstoptimierung,

welche das Leben in der modernen Leistungsgesellschaft charakterisieren und signifikante Auswirkungen auf uns und das gesellschaftliche Miteinander haben. Die Folge dieser Entwicklungen sind Dauerstress oder sogar Erschöpfung. Viele fühlen sich überfordert, wollen aussteigen. Leistung ist nicht länger ein intrinsisches Bedürfnis, sondern wird von anderen erwartet. Die Gesellschaft hat das Hamsterrad aufgestellt und wir hören nicht mehr auf zu laufen. Und jeder läuft für sich, denn es fehlt häufig die Zeit, um sich um andere zu kümmern.

Daher leiden mindestens 300.000 Menschen in Deutschland am Burnout-Syndorm. Nicht die Schwachen, Leisen oder Midlife-Crisis-Geplagten brennen aus. Es sind die Engagierten, Leistungsstarken, die der jähe Energieverlust trifft wie ein Schlag. Die, von denen man es nie gedacht hätte, obwohl es so folgerichtig erscheint: Nur wer für das, was er tut, brennt, kann auch ausbrennen.

Und das Alter der Burnout-Gefährdeten sinkt: Prominete wie Oliver Kahn, Sven Hannawald, Sebastian Deisler und Britney Spears haben sich als Burnout-Opfer geoutet. Auch unter Nichtprominenten wächst der Druck enorm. Nach einer aktuellen Leserumfrage des Karrieremagazins leidet mehr als ein Drittel unter extremer Arbeitsbelastung, jeder Fünfte fürchtet um seinen Job.

Private Probleme potenzieren die Belastung: Laut einer Emnid-Untersuchung befindet sich jeder Zweite dauerhaft im Stress. Besonders anfällig sind Manager der mittleren Ebene, die Druck von oben und unten erleben, ITler in ausufernden Projekten mit harten Deadlines, Selbstständige und Menschen aus helfenden Berufen mit hohen Idealen, die permanenten Frust erleben, wie Ärzte oder Lehrer.

Miwa Sado war eine Journalistin des japanischen Fernsehsenders NHK, die im Alter von 31 Jahren an Überarbeitung starb, nachdem sie in einem Monat 159 Überstunden arbeitete. Ihr Tod machte Schlagzeilen, ist aber tragischerweise nichts Ungewöhnliches, denn das Phänomen, an Überarbeitung zu sterben, ist so tief in der japanischen Gesellschaft verankert, dass es sogar einen Namen hat – Karoshi.

Obwohl es keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen längeren Arbeitszeiten und gesteigerter Produktivität gibt ist das Phänomen dort so ausgeprägt, dass einer von fünf Arbeitnehmern Gefahr läuft, an Überarbeitung zu sterben. Die Situation in Japan ist extrem, aber unbezahlte Überstunden, verfallene Urlaubstage und Angestellte, die aufgrund eines Burnouts ausfallen, kennt man auch hier. Ein weiteres Phänomen hat sich in den letzten Jahren bemerkbar gemacht:

die Glorifizierung diese Erschöpfungszustands – Burnout und Überarbeitung als Statussymbol?

Die meisten von uns haben folgende Worte schon mal selbst gesagt, oder zumindest gehört „Ich würde dir gerne helfen, aber ich habe einfach zu viel zu tun.“ oder „Heute hatte ich vor lauter Arbeit keine Zeit, um Mittag zu essen.“ oder das berühmte „Ich bin kurz vor dem Burnout“.

So ehrlich sich diese Statements in dem Moment, in dem sie ausgesprochen werden, auch anfühlen mögen, sie suggerieren vor allem eines: Meine Arbeit ist wichtig(er). Seit Jahren warnen uns Zeitungsartikel, Ärzte und Kollegen, die bereits eines hinter sich haben, vor der „Volkskrankheit Burnout“. Anstatt besser auf uns selbst zu achten, glorifizieren wir diesen Zustand jedoch geradezu und übertrumpfen uns gegenseitig mit Geschichten der Selbstausbeutung und Überarbeitung. Die Person, die am längsten im Büro geblieben, den meisten Kaffee getrunken und am wenigsten geschlafen hat, gewinnt – aber was eigentlich?

In einer Studie, die sich damit beschäftigt, wie der Mangel an Freizeit zum neuen Statussymbol wurde, untersuchte die Autorin Silvia Bellezza, Reaktionen auf Facebook-Kommentare, in denen Überarbeitung und das Fehlen von Freizeit beklagt wurde. Sie stellten fest, dass die Kommentare sich positiv auf das soziale Kapital und damit den Status der Person auswirkten: Je mehr sich jemand über das Zuviel an Arbeit beklagte, desto eher stieg das Ansehen dieser Person.

Suchen wir nur nach Anerkennung?

Im Büro resultiert Überarbeit jedoch nicht in erhöhtem Ansehen der Kollegen, sondern in Frustration und einem toxisches Arbeitsklima. Oft gehen sogar diejenigen, die bereits ein Burnout hatten, und es daher besser wissen sollten, mit schlechtem Beispiel voran (die Rückfallquote von Burnouts liegt bei 50-70 Prozent). Trotz allem wird Erschöpfung paradoxerweise immer noch mit Erfolg gleichgesetzt und Kollegen, deren Work-Life-Balance intakt ist, leisten nach dieser verdrehten Logik einfach nicht genug.

Zu viel zu arbeiten, egal, ob aus Druck oder eigener Entscheidung, hat weitere persönliche und auch berufliche Nachteile. Denn Kollegen, die immer zu beschäftigt sind und keine Zeit haben, um anderen zu helfen, werden nicht mehr als Mehrleister, sondern als ineffizient und unhöflich angesehen.

Sind wir wirklich so beschäftigt, dass wir keine Zeit haben, um eine Frage zu beantworten, Mittag zu essen oder unsere Urlaubstage aufzubrauchen oder erzählen wir anderen einfach nur gerne davon, weil wir nach Anerkennung suchen und unersetzlich erscheinen wollen? Wenn zwischen tatsächlicher und gefühlter Überarbeitung nicht mehr unterschieden wird und Begriffe wie Burnout inflationär verwendet werden, passiert genau das Gegenteil und wirklich niemand ist beeindruckt.

Die Zahl der Menschen, die an Burnout und Überarbeitung leiden, steigt – aber die Anzahl der Überstunden, die in Deutschland gemacht werden, ist seit 16 Jahren kontinuierlich gesunken (von 1.106 Mio in 2000 auf 821 Mio in 2016). Nicht jeder ist also davon betroffen und auch die Diagnose des Erschöpfungszustandes erfolgt heute schneller als früher. Im Gegensatz zu Ländern, in denen Arbeitnehmerrechte tatsächlich mit Füßen getreten werden, haben wir jedoch Einfluss auf unsere Arbeitssituation. Wir suchen bewusst nach flexiblen Aufträgen, die uns Spaß machen und nehmen dafür in Kauf, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt. Oder wir entscheiden uns für Jobs, die besser bezahlt werden, aber dafür auch mehr Einsatz verlangen.

Die Glorifizierung des Burnouts ist natürlich auch kulturell bedingt. Bellezza meinte dazu, dass Arbeit in den USA so identitätsstiftend ist, dass Angestellte bereit sind, für ein bisschen Prestige ihre wenigen Urlaubstage verfallen zu lassen, während man in Italien von Menschen, die ihren Sommerurlaub freiwillig aufgeben annimmt, dass sie „Verlierer sind, sich keinen Urlaub leisten können oder einfach uninteressant sind“.

Und wie sieht die Situation in Deutschland aus, wo die gefühlte Tendenz auch eher in Richtung Selbstausbeutung als Selbstverwirklichung geht? Sascha Nicke, Journalist und Dozent an der Uni Potsdam, sieht die Lösung in der Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen: Eine Reduzierung der Arbeitszeit und die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens würden seiner Meinung nach allen Gesellschaftsmitgliedern die Möglichkeit geben, verschiedene Lebensentwürfe, Betätigungsfelder und Selbstbilder auszuprobieren. Bis das umstrittene Konzept jedoch realisiert wird, liegt es an uns, abzuwägen, wie viel wir bereit sind, für unsere Karriere zu opfern und wo wir die Grenze ziehen.

Doch das alles ist noch lange kein Grund den Optimismus zu verlieren und die moderne Leistungsgesellschaft zu verteufeln. Denn wie dieser Essay zeigen möchte, hat sich das gesellschaftliche Miteinander in Europa über die letzten Jahrhunderte immer wieder stark verändert: Die Ständegesellschaft wurde von einer Industriegesellschaft abgelöst, die sich wiederum in grundlegenden Aspekten erheblich von der modernen Leistungsgesellschaft unterscheidet. Neue Technologien, politische Konzepte oder der jeweilige Zeitgeist hatten und haben immer noch einen großen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung. Die gesellschaftliche Evolution ist nie abgeschlossen.

Panta Rhei – Alles fließt! Ein politisches Konzept, das in jüngster Zeit verstärkt in den Medien diskutiert wurde und das einen erheblichen Einfluss auf unsere Gesellschaft haben könnte ist das bedingungslose Einkommen – ein Einkommen, was nicht an Beschäftigung geknüpft ist. Nachdem das bedingungslose Grundeinkommen vor zehn Jahren höchstens am linken Rand der Gesellschaft diskutiert wurde, sprechen sich heute Unternehmer wie Götz Werner von den DM-Drogeriemärkten oder Telekom-Chef Timotheus Höttges dafür aus. In der Schweiz und in Finnland wird die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens sogar schon ernsthaft politisch diskutiert. Eine Trendwende? Möglicherweise!